Samstag, 6. November 2010

Wie hast du´s mit der Religion?

Was machst du denn nächsten Sonntag? -Welch eine Frage! Sonntag geht man in die Kirche. Das gehört sich einfach so. Jegliche andere Unternehmungen sind zweitrangig bzw. unerwünscht. Dass das hier für die meisten Menschen unheimlich wichtig ist, findet man sehr schnell heraus:
„Hast du Lust, am Sonntag mit nach Etosha zu fahren?“ -“Nicht Sonntag, da ist doch Gottesdienst.“ Selbst das Copper-Festival, jährliches Großereignis von Tsumeb, wurde von einem Pastor mit Ansprache und Gebet eröffnet. „Können wir das Konzert nicht am Sonntag Abend machen? -Völlig ausgeschlossen! Da würden wir ohne Publikum spielen, denn die Leute gehen Sonntag nur in die Kirche. (Diese dauert auch immerhin häufig um die drei Stunden, womit ein Großteil des Tages dann auch schon vorbei ist.)
Was passiert, wenn man sich dem widersetzt? -Nein, das sollte man lieber nicht versuchen. Unser Orchesterwochenende welches in einer Woche stattfinden soll, stellt in der Hinsicht also ein ernsthaftes Problem dar. Außerkirchliche Veranstaltungen zur sonntäglichen Gottesdienstzeit sind nun einmal nicht gestattet. Die einzige Möglichkeit, dies zu umgehen: Wir halten selbst einen „Holy Service“, bevor wir mit den Orchesterproben beginnen. Etwas absurd ist die Vorstellung ja schon, mich vor eine Horde Kinder zu stellen, um eine „Predigt“ zu halten. Da es dazu aber scheinbar keine Alternativen gibt, wird es wohl darauf hinauslaufen. Na, wunderbar.

Dass wir Freiwilligen den Sonntag Vormittag meist einfach verschliefen, konnte natürlich nicht angehen. Immer wieder wurden wir von verschiedenen Seiten dazu angehalten, diese oder jene Kirche zu besuchen, wir seien doch jederzeit herzlich willkommen. Mehrmals erhielten wir mehr oder weniger seriöse Flugblätter, die uns dazu aufforderten, die Bibel zu lesen und regelmäßig zu beten. (Vor den unzähligen Sekten, die hier sehr großen Zulauf haben, wurden wir schon zuvor gewarnt, wobei die Definition von „Sekte“ ja so eine Sache ist.)

Nachdem ein Musiklehrer, der bei mir Klavierunterricht nimmt, uns schon mehrmals eingeladen hatte, seine Kirche zu besuchen, wo er doch jeden Sonntag Musik mache, beschlossen wir letzte Woche, ihm den Gefallen zu tun und uns das einmal anzusehen. Es kostete große Überwindung, freiwillig früh aufzustehen, doch Gianna, Ronja und ich schafften es tatsächlich, pünktlich um 9 Uhr vor dem „Christ´s Love Ministry“ zu sein, wo wir nun plötzlich zögernd am Eingang standen. Natürlich werden wir auffallen, allzu viele Weiße sind hier nicht zu erwarten. Nun sind wir aber einmal so weit gekommen, dass wir nicht umkehren können. Todesmutig betreten wir also die Kirche, wo wir gleich von mehreren Menschen freundlich begrüßt werden. In dem recht großen Raum mit vielen Fenstern stehen einige Stühle vor einem mit dem Kirchenlogo versehenen Rednerpult, einem Keyboard und Soundanlage, eine Art Altar bildete ein Strauß Rosen auf einem seltsamen Gestell. Viele Menschen sind nicht da, doch einen geschlossenen Beginn scheint es für diese Veranstaltung nicht zu geben. Während vorne besagter Musiklehrer Worship-Lieder Keyboard spielt und dazu singt, steht am Pult jemand, der mit geschlossenen Augen leidenschaftlich in ein Mikrofon schreit, verstehen kann man jedoch nichts. Erst nach einiger Zeit wird mir klar, dass es sich hier um ein Gebet handeln muss. Die Anwesenden begleiten dieses mit begeisterten „Amen!“- und „Halleluja“-Rufen, sprechen ebenfalls Dinge vor sich hin und einige laufen sogar auf und ab, wobei sie völlig versunken ununterbrochen in die Hände klatschen. Etwas befremdet sitzen wir auf unseren Plätzen, in der vorletzten Reihe, fühlen uns leicht unwohl und sehen dem Geschehen zu, während die Kirche sich nach und nach mit Menschen füllt. Der Gottesdienst besteht zum Großteil aus solch seltsamen mit Musik untermalten Gebeten, vor allem aber aus Liedern, die meist relativ kurz sind, dafür aber in Endlosschleife zehn Minuten lang wiederholt werden, während man beobachten kann, dass die Gemeindemitglieder nicht mehr ganz in dieser Welt zu sein scheinen. Beeindruckt bin ich jedoch davon, wie begeistert und wie gut hier gesungen wird. Ohne jegliche Noten singt man mehrstimmig, klatsche und tanzt dazu, was in Deutschland völlig undenkbar wäre. Auf ihren Plätzen sitzen bleiben können die wenigsten dabei. Die „Bibel-Lecture“ dauert etwa 45 Minuten, in denen ein Text Vers für Vers auseinandergenommen wird, die Anwesenden eifrig in ihren Bibeln blättern oder mitschreiben. Jeder, dem etwas dazu einfällt, steht auf um es der Gemeinde mitzuteilen. Natürlich werden wir Besucher anschließend auch noch persönlich begrüßt, dürfen nach vorne kommen und bekommen vom Pastor einen Segen auf Afrikaans zugesprochen, den wir daher leider nicht verstehen. Dass wir alle aus der Schweiz seien und im APC arbeiteten, weiß man bereits aus anonymer Quelle und erwähnt es also ganz nebenbei.
Nachdem der Gottesdienst nun schon zwei Stunden andauert geht man nun zur Predigt über, die wohl sehr emotional ist, denn der Pastor schreit beinahe eine Stunde lang in ein Mikrofon, wobei er auf und ab läuft. Verstehen kann man trotz der Dolmetscherin, die jedes Wort übersetzt, kaum etwas. Bis zu diesem Zeitpunk war alles, was hier vor sich ging zwar sehr befremdlich, jedoch nicht völlig unerwartet. Doch was nun folgt ist doch etwas beängstigend. Unter dem nun beinahe betörenden Gesang eines Anbetungsliedes kommen die Menschen einer nach dem Anderen nach vorne, vermutlich um einen Segen zu empfangen. Dazu strecken sie die Arme aus, worauf der Pastor ihnen eine Flüssigkeit -Öl, wie ich annehme- auf Kopf und Hände tropft, ihnen dann seine in Ekstase bebenden Hände auflegt und minutenlang Worte ruft, die ich nicht verstehe. Viele der so Gesalbten fangen an zu zittern, hyperventilieren, beginnen unverständliche Worte zu schreien und kippen ohnmächtig um. Damit scheint man gerechnet zu haben, denn immer steht schon jemand bereit, um betreffende Person aufzufangen und vorsichtig auf den Boden zu legen. Nachdem man diese dann mit Tüchern bedeckt hat geht man über zum Nächsten. Auch ältere Menschen, die kaum noch laufen können unterziehen sich diesem Ritual, haben jedoch teilweise Mühe, nachher wieder aufzustehen und benötigen die Hilfe einiger Frauen, die sie stützen. Bis letztendlich auch der Pastor selbst, sowie die Sängerinnen am Mikro und der Keyboard und Schlagzeugspieler an der Reihe gewesen sind, bin ich so benebelt von diesen Endlos-Gesängen, dass mir der Gedanke kommt, ich wäre bei diesem Ritual womöglich auch ohnmächtig geworden. Völlig erschöpft verlassen wir nach dreieinhalb Stunden die Kirche, nun um eine Erfahrung reicher.

Als sei das noch nicht genug gewesen, entschließe ich mich, am Nachmittag einen weiteren Gottesdienst zu besuchen. Der Gegensatz hätte jedoch größer nicht sein können. Es handelte sich um den der deutschen lutherischen Gemeinde von Tsumeb, der auf einer Farm etwas außerhalb im Freien stattfand. Plötzlich komme ich mir vor, als sei ich zu Hause in Deutschland. Hätte ich es nicht gewusst, wäre ich niemals auf die Idee gekommen, diese Menschen seien Namibier, die seit mehreren Generationen hier leben. Genauso gut hätte ich mich in einem niedersächsischen Dorf befinden können. Natürlich sitzt man hier ruhig auf seinem Stuhl, steht auf, wenn es erwartet werd und setzt sich dann wieder hin, liest etwas gelangweilt den Psalm im Wechsel mit dem Lektor. Etwas verwundert bin ich, dass die Gemeindelieder von den Wenigsten (wenn, dann natürlich einstimmig) mitgesungen werden, was in Kombination mit der wackeligen Gitarrenbegleitung etwas kläglich wirkt. Beinahe wage ich es nicht, selbst zu singen, obwohl ich ausnahmslos alle Lieder kenne, die der Pastor aus dem Niedersächsischen Gesangbuch ausgewählt hat. Ganz im Gegensatz zu der ekstatischen Stimmung am Vormittag herrscht hier eine sehr persönliche und gemütliche Atmosphäre. Man kennt sich gegenseitig und witzelt bei den Bekanntgaben selbstironisch über die Konfirmandengruppe, bestehend aus zwei Mitgliedern. Im Anschluss gibt es ein gemütliches Beisammensein bei Kaffee und Kuchen, wobei man sich über den neuesten Klatsch und Tratsch auf dem Laufenden hält, Kuchenrezepte austauscht und den Senioren-Spieleabend plant. Ich komme mir vor wie im falschen Film -ist das hier Namibia? Bis zu diesem Zeitpunkt habe ich in diesem Land noch keinen Kaffee getrunken, geschweige denn Kuchen gegessen. Nun sitze ich an auf einer hübschen Farm neben Bananenstauden an einem mit gebügelter Tischdecke und Deko-Objekten geschmückten Tisch und erzähle den deutschen Farmern, in einer Großfamilien-Atmosphäre von meiner Arbeit im APC.
Was soll ich von den Erlebnissen dieses Tages nur halten? Wie kann man an einem Tag so gegensätzliche Erfahrungen machen? Es gibt schon sehr seltsame Dinge...  Aber das gehört wohl dazu. Immerhin kann ich jetzt bestätigen, dass an dem Satz, Namibia sei ein Land voller Gegensätze, etwas Wahres dran ist.

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