Sonntag, 28. November 2010

Regengeschichten

Monatelang klagte man hier über Hitze und Trockenheit, seit Mai war kein Regen mehr gefallen, jetzt regnet es beinahe jeden Tag. Ständig ist der Himmel wolkenverhangen und die vorher vertrocknete Buschlandschaft wird plötzlich immer grüner. 


Es kommt immer häufiger vor, dass ich morgens aufwache und feststelle, dass es heute sogar angebracht wäre, mit festen Schuhen und langer Hose aus dem Haus zu gehen. Dass es im Laufe des Tages dafür dann doch bald zu warm wird, spielt dabei keine Rolle. Ohne Frage, das Wetter ist herrlich. Gehe ich an einem völlig nasskalt verregneten Tag morgens zur Arbeit, so höre ich von den Menschen, die ich treffe als erstes sagen: „What a nice weather today!“ In Deutschland hätte man sich an einem solchen Tag über die Kälte und Nässe beschwert. Hier jedoch ist es wunderbar, tatsächlich einmal eine Jacke tragen zu können.
Dass der ständige Regen in vieler Hinsicht jedoch Probleme bereitet, kann man auch immer wieder feststellen.
Die Tour nach Otjiwarongo und zurück am letzten Freitag war dementsprechend abenteuerlich. Morgens brachen wir bei Sonnenschein zu viert mit dem Auto auf, zunehmend zeigten sich jedoch dunkle Wolken bis es nach einer Stunde Fahrt heftig zu regnen begann. Das allein sollte normalerweise kein Problem darstellen, solange die Scheibenwischer so funktionieren, wie es sich gehört. Beinahe erwartungsgemäß ist dies natürlich nicht der Fall, sodass nach kurzer Zeit der rechte Frontscheibenwischer, also der auf der Fahrerseite, unterhalb der Scheibe verhakt ist. Auf diese Weise können wir unmöglich die Fahrt mit unseren 120km/h fortsetzen, halten also am Straßenrand, wobei das Autos noch halb auf der Fahrbahn steht und somit wenige Zentimeter Abstand zu den vorbeirasenden Fahrzeugen hat. Aussteigen, im strömenden Regen den Scheibenwischer wieder zurechtrücken und die Fahrt fortsetzen. Zwei Minuten später müssen wir feststellen, dass der Scheibenwischer nun nach außen abdriftet und inzwischen außerhalb der Frontscheibe feststeckt. Die Sicht ist nach vorne ist gleich Null, also wieder anhalten und das Problem beheben. Eine Weile funktioniert es, dann wiederholt sich die Prozedur. Auf diese Weise bewegen wir uns nun also im Stop-and-Go-Modus, mit Stopps im 2-Minuten-Takt vorwärts. Durch das Öffnen des Fensters auf der Fahrerseite kann dieser während der Fahrt mit einer Hand den Scheibenwischer daran hindern, nach rechts auszubrechen und versuchen, ihn in seine richtige Position zurück zu schieben. Dass das Auto dabei einen kleinen Bogen fährt, sobald er dem Scheibenwischer einen Stoß gibt, ist nicht weiter bedenklich. 

Regen, Regen...

Schätzungsweise nach dem zehnten Stopp kommt jemand auf die Idee, man könne doch die Schrauben etwas festdrehen und so das Problem eventuell lösen. Werkzeug haben wir natürlich keines dabei, stellen uns also auf die Straße, um die herannahenden Fahrzeuge um Hilfe zu bitten. Die Meisten lassen sich dadurch jedoch nicht beeindrucken -warum denn die Geschwindigkeit zurücknehmen? Diese Verrückten werden schon aus dem Weg springen. Der Einzige, der schließlich anhält, ist ein weißer Bure in einem schicken Geländewagen, der sofort sein Multi-Tool auspackt und sich an unserem Auto zu schaffen macht. Der Erfolg ist grandios, wir können nun ganze drei Minuten ohne Unterbrechung fahren, bevor alles wieder beim Alten ist. Hat nicht jemand eine Schnur dabei, mit der man den Scheibenwischer festbinden könnte? Natürlich nicht. Sollen wir nicht lieber umdrehen und zurückfahren? -Da wir jedoch schon auf halbem Wege sind, gibt das wenig Sinn. Endlich kommen wir an eine Tankstelle, wo wir um geeignetes Werkzeug bitten und nun professionell ausgerüstet am Auto herumschrauben können. Der rechte Scheibenwischer ist nicht zu retten, wir tauschen ihn also schließlich einfach mit dem Linken aus, was gut zu funktionieren scheint. Das Problem ist gelöst, glücklicherweise werden wir es nun doch noch halbwegs rechtzeitig nach Otjiwarongo schaffen. Dass sich der nun linke, nicht mehr funktionstüchtige Scheibenwischer allerdings mit dem anderen verhakt, konnte ja keiner ahnen. Ich als Beifahrer versuche also durch das offene Fenster diesen auf der linken Seite festzuhalten, wobei mir langsam aber sicher die Hand abzufrieren droht. -Eine Lösung findet sich schließlich, indem wir den defekten Scheibenwischer einfach nach unten biegen und damit vollständig außer Gefecht setzen. Nach einer etwa dreistündigen, ereignisreichen Fahrt erreichen wir unser Ziel, hier ist von Regen natürlich weit und breit keine Spur.
Die Rückfahrt verläuft weitgehend ohne Zwischenfälle. Auf halbem Wege bekommen wir einen Anruf aus Tsumeb, wo es scheinbar einen Gewitterguss in einem Ausmaß gegeben hat, wie nie zuvor. (Oder wie Isai es ausdrückte: „The rain was visiting us.“ -Na dann richte ihm doch mal schöne Grüße von uns aus.) Das APC stehe unter Wasser, das Dach sei an zwei Stellen eingebrochen und der Unterricht falle heute vollständig aus. Na, wunderbar.
Wir fahren einer dunklen Wolkenwand entgegen, während hinter uns die Sonne scheint. So schlimm die Ausmaße des Unwetters sein mögen, diese Gewitteratmosphäre ist faszinierend.

Dem Regen entgegen

In Tsumeb angekommen sehen wir uns den Schaden an. Das Wasser, welches 20cm hoch in der Küche gestanden haben soll, ist inzwischen aufgewischt. Die Instrumente konnten glücklicherweise gerettet werden und das Dach, welches tatsächlich schlimm beschädigt aussieht, wird schnellstmöglich repariert. Die eigentliche Katastrophe haben wir also verpasst.

Am nächsten Tag findet das Graduation-Concert statt, das letzte Konzert diesen Jahres, in dem die Schüler, welche einen Test bestanden haben, auftreten und anschließend offiziell ihre Certificates überreicht bekommen. Seit mittags sieht der Himmel schon nach Regen aus, unsere Hoffnungen auf einen freien Abend erfüllen sich jedoch nicht, denn es bleibt vorläufig trocken. (Da das die Zuschauer unter freiem Himmel sitzen und lediglich die Bühne überdacht ist, sind solche Veranstaltungen sehr wetterabhängig.) Die Stimmung während des Konzertes ist dennoch herrlich, da der Himmel pausenlos von Blitzen erhellt wird, was in der Dunkelheit sehr eindrücklich ist. Ein starker Wind kündigt jedoch nach der Pause den kommenden Gewitterguss an während man den nahenden Regen beinahe fühlen kann. Sehr inoffiziell werden nun in aller Eile den restlichen Schülern im Schnellverfahren ihre Urkunden überreicht während sich die Bankreihen plötzlich schlagartig leeren und ein Großteil des Publikums hektisch das Gelände verlässt, um vor dem Wolkenbruch zu Hause zu sein. Nur der harte Kern bleibt da, um die Bühne abzuräumen, Instrumente und Technik in Sicherheit zu bringen. Bald fängt es zu regnen an, wir beeilen uns mit dem Aufräumen, halten einen Regenschirm über technische Geräte, während diese transportiert werden. Inzwischen gewittert es heftig und alle verbleibenden Schüler und Lehrer versammeln sich in der Küche, bei dem Wetter kann man unmöglich nach Hause laufen. Lis wird alle mit dem Auto nach Hause fahren. Wir bewegen uns also durch den Regen zum Ausgang, als es plötzlich stockdunkel wird. Stomausfall, ganz Tsumeb hat kein Licht mehr, sodass man kaum noch die Hand vor den Augen sehen kann. Glücklicherweise wird die Nacht regelmäßig von starken Blitzen erhellt, sodass eine Orientierung halbwegs möglich ist. Die Dunkelheit hält an und wir stehen auf der Straße während wir darauf warten, dass Lis mit dem Auto kommt. Anhand der Stimmen kann ich ungefähr ausmachen, wer die Menschen um mich herum sind. „Bei uns im Norden ist es nachts immer so dunkel. Darum können wir Ovambo uns auch so orientieren. Ich könnte dir auch jetzt noch sagen, welche Farbe das T-shirt hat, das du trägst.“ Das glaube ich dem Schüler, der mir das erzählt sofort, auch wenn mir das selbst unbegreiflich ist. Denn ich sehe nichts. Absolut nichts.
Lis´Auto ist für 8 Personen ausgelegt, es ist also kein Problem, alle 24 Leute darin unterzubringen. Zwar ist es etwas eng, dafür aber umso lustiger. Die Nacht ist vollkommen schwarz, vor uns fährt ein Auto ohne Scheinwerfer. Die Tour durch Tsumeb, bei Jeder einzeln nach Hause gebracht wird, ist abenteuerlich. Mir ist es nach wie vor ein Rätsel, wie man sich im Dunkeln, bei stömendem Regen und nach wie vor defektem Scheibenwischer sowie durch die vielen Menschen völlig beschlagenen Scheiben auf hügeligen Schotterpisten, die teilweise zu Bächen geworden waren, zurechtfinden kann. Wir fahren durch die Location, soviel verstehe ich. Immer wieder ruft jemand „turn left“ , „turn right.“ oder „stop here.“und ich frage mich, wie die Leute denn wissen konnten, wo sie sich überhaupt befinden. Im Nachhinein hätte ich nicht einmal mehr sagen können, wo wir eigentlich langgefahren sind, in welche Richtung überhaupt...
Schließlich werde auch ich sicher zu Hause abgeliefert, wo ich mich glücklich schätze, eine Taschenlampe mit Handbetrieb zu besitzen. Im Bett liegend lausche ich dem anhaltenden Regen, bis gegen 12 Uhr plötzlich schlagartig alle Lichter wieder angehen. Wie gut, dass ich somit nicht im Dunkeln schlafen muss.

Montag, 22. November 2010

Pirates of the APC

"Das mit diesem Orchesterwochenende wird doch sowieso nichts! Überlegt euch das gut, das wird für die Lehrer doch nur unheimlich anstrengend, die meisten Kinder kommen sowieso nicht und bei der Disziplin ist es doch unmöglich mit so vielen zusammen zu spielen..."
Wir rechneten also mit dem Schlimmsten. Versuchen wollten wir es aber trotzdem. (Wir = die vier Freiwilligen, also Gianna, Ronja, Friedemann und ich) Wochenlang wurde alles organisiert, das Stück -Filmmusik von „Pirates of the Caribean“ -ein wenig umgeschrieben und gekürzt, mit den Schülern geprobt, Tagespläne erstellt, Application forms geschrieben und verteilt, Einkaufslisten... Nach wie vor bestanden die Zweifel an der Unternehmung -Was, wenn das Stück viel zu schwer ist? Wenn die Hälfte der Kinder nicht da ist? Wer ist trägt die Verantwortung, wenn irgendwas passiert? Werden wir das mit der Disziplin irgendwie hinbekommen?

Letztendlich war es jedoch ein voller Erfolg - entgegen allen Prognosen ein herrliches Wochenende, das keiner so schnell vergessen wird. Ausnahmslos alle angemeldeten Schüler erschienen – eine sensationelle Teilnehmerquote von 100% -worauf wir nicht zu hoffen gewagt hatten.
Bereits in der ersten Gesamtprobe war ich völlig beeindruckt, wie gut das Zusammenspiel funktionierte, denn wir hatten mit einem totalen Chaos gerechnet. Sicher war es nicht perfekt, im Gegenteil, sogar ziemlich schräg, aber wir schafften es, von Anfang bis Ende zusammen zu spielen und die Begeisterung machte ohnehin (fast) alle Fehler wett.
Unser Stück wurde nun bis zum Umfallen geübt, Stimmproben, Stimmgruppenproben... Einzelproben... und wieder Gesamtprobe. Genug Freizeit für Spiele und natürlich Essen blieb dabei auch, sodass es zwar anstrengend, aber nicht langweilig wurde. Die Ausdauer und Begeisterung, mit der „King, Vize,...“ gespielt wurde, war tatsächlich erstaunlich.
Von wegen "Piratenorchester"

Obwohl der Großteil der Zeit mit Proben gefüllt war, war die Stimmung total schön. Man glaubt kaum, wie zwei gemeinsam verbrachte Tage den Zusammenhalt einer solchen Gruppe stärken - wir als die „Pirates of the APC“ waren nun ein Orchester, ein Team, das zusammen gehörte!
Letztendlich wurde das Pirates-Stück grandios, nicht weil alle Töne richtig gewesen wären, sondern weil man die Spannung während des Spielens förmlich spüren konnte, wenn jeder sein Bestes gab, weil es einfach Spaß machte und man den Kindern diesen förmlich im Gesicht ablesen konnte. Wenn der erste Geiger beim Spielen völlig aus sich heraus ging, dabei die Augen schloss und lächelte, wusste ich, dass das es sich gelohnt hatte. Diesen Moment werde ich nicht vergessen.

Nach den Proben am Samstag fand dann (unabhängig von unserem Orchesterworkshop) ein Teachers-Concert statt, also auch kein freier Abend. Alle Lehrer waren dazu angehalten, etwas zu präsentieren... allein oder mit anderen zusammen... insgesamt ein wirklich schönes Konzert. Unsere Tanzaufführung wurde „leider“ aus dem Programm gestrichen, da dieses zu lang wurde, was mir ehrlich gesagt auch ganz recht war. Die Kinder müssen ja nicht unbedingt sehen, wie ungeschickt wir Europäer uns im afrikanischen Tanz anstellen...Auch so wurde es ein langer Abend, schließlich ging es Sonntag Morgen ja mit den Pirates weiter. An dieser Stelle sei noch der „Holy Service“ erwähnt, den ich am Sonntag Morgen die Ehre hatte, zu halten -also eine Art Andacht. Niemals hätte ich damit gerechnet, dass die Kinder das so ernst nehmen und so ruhig sein würden. An dieser Stelle war ich ehrlich beeindruckt. Religion wird hier tendenziell viel ernster genommen, als das in Deutschland der Fall ist - die meisten Kinder sind es einfach gewöhnt, jeden Sonntag in die Kirche zu gehen.


Holy Service

Aufgrund des Regens mussten wir jedoch die für Montag geplante Aufführung unseres Werkes um einen Tag verschieben. (Allzu nasses Wetter macht sich bei einer Open-Air-Bühne nun einmal schlecht, auch wenn es bei dem Klima hier durchaus sehr angenehm ist.)
 Einer unserer in einer Auflage von 400 Stück gedruckten, professionell designten Werbeflyer
Das Konzert am Dienstag Abend war dann der krönende Abschluss unseres Projektes. Außer dem Orchester spielten noch Quartette und das kleine Ensemble. Das Beste waren aber die beiden Moderatoren, zwei unserer Piraten in voller Montur mit herrlichen Bierbäuchen, die das Konzert, deren schauspielerische Leistung das Ganze zu einem echten Theatererlebnis machte. Die Geschichte von zwei Piraten auf einem verlassenen Schiff, die letztendlich nach langer Suche ihre Mannschaft - also das „Piratenorchester“- wiederfinden. Die beiden könnten mit einer Comedy-Show sicher sehr erfolgreich sein. Dass wir dabei kaum Publikum hatten, war zwar schade, aber insofern auch nicht weiter schlimm. Nach unserer Piratenmusik, dem Höhepunkt des Konzerts waren die Kinder so begeistert, dass letztendlich alle das Stück noch einmal spielen wollten. So präsentierten wir dieses also noch ein zweites Mal in Folge, nun umso begeisterter!

„And when are we having the next Orchestra-Workshop?“, wollten einige wissen. -Ja, das werden wir sehen. Bisher ist nichts dergleichen geplant und in Anbetracht der Zeit und Mühe, die dieses Wochenende gekostet hat, werden wir uns das gut überlegen. Schön ist es dennoch, diese Frage zu hören.

Pirates of the APC

Samstag, 6. November 2010

Wie hast du´s mit der Religion?

Was machst du denn nächsten Sonntag? -Welch eine Frage! Sonntag geht man in die Kirche. Das gehört sich einfach so. Jegliche andere Unternehmungen sind zweitrangig bzw. unerwünscht. Dass das hier für die meisten Menschen unheimlich wichtig ist, findet man sehr schnell heraus:
„Hast du Lust, am Sonntag mit nach Etosha zu fahren?“ -“Nicht Sonntag, da ist doch Gottesdienst.“ Selbst das Copper-Festival, jährliches Großereignis von Tsumeb, wurde von einem Pastor mit Ansprache und Gebet eröffnet. „Können wir das Konzert nicht am Sonntag Abend machen? -Völlig ausgeschlossen! Da würden wir ohne Publikum spielen, denn die Leute gehen Sonntag nur in die Kirche. (Diese dauert auch immerhin häufig um die drei Stunden, womit ein Großteil des Tages dann auch schon vorbei ist.)
Was passiert, wenn man sich dem widersetzt? -Nein, das sollte man lieber nicht versuchen. Unser Orchesterwochenende welches in einer Woche stattfinden soll, stellt in der Hinsicht also ein ernsthaftes Problem dar. Außerkirchliche Veranstaltungen zur sonntäglichen Gottesdienstzeit sind nun einmal nicht gestattet. Die einzige Möglichkeit, dies zu umgehen: Wir halten selbst einen „Holy Service“, bevor wir mit den Orchesterproben beginnen. Etwas absurd ist die Vorstellung ja schon, mich vor eine Horde Kinder zu stellen, um eine „Predigt“ zu halten. Da es dazu aber scheinbar keine Alternativen gibt, wird es wohl darauf hinauslaufen. Na, wunderbar.

Dass wir Freiwilligen den Sonntag Vormittag meist einfach verschliefen, konnte natürlich nicht angehen. Immer wieder wurden wir von verschiedenen Seiten dazu angehalten, diese oder jene Kirche zu besuchen, wir seien doch jederzeit herzlich willkommen. Mehrmals erhielten wir mehr oder weniger seriöse Flugblätter, die uns dazu aufforderten, die Bibel zu lesen und regelmäßig zu beten. (Vor den unzähligen Sekten, die hier sehr großen Zulauf haben, wurden wir schon zuvor gewarnt, wobei die Definition von „Sekte“ ja so eine Sache ist.)

Nachdem ein Musiklehrer, der bei mir Klavierunterricht nimmt, uns schon mehrmals eingeladen hatte, seine Kirche zu besuchen, wo er doch jeden Sonntag Musik mache, beschlossen wir letzte Woche, ihm den Gefallen zu tun und uns das einmal anzusehen. Es kostete große Überwindung, freiwillig früh aufzustehen, doch Gianna, Ronja und ich schafften es tatsächlich, pünktlich um 9 Uhr vor dem „Christ´s Love Ministry“ zu sein, wo wir nun plötzlich zögernd am Eingang standen. Natürlich werden wir auffallen, allzu viele Weiße sind hier nicht zu erwarten. Nun sind wir aber einmal so weit gekommen, dass wir nicht umkehren können. Todesmutig betreten wir also die Kirche, wo wir gleich von mehreren Menschen freundlich begrüßt werden. In dem recht großen Raum mit vielen Fenstern stehen einige Stühle vor einem mit dem Kirchenlogo versehenen Rednerpult, einem Keyboard und Soundanlage, eine Art Altar bildete ein Strauß Rosen auf einem seltsamen Gestell. Viele Menschen sind nicht da, doch einen geschlossenen Beginn scheint es für diese Veranstaltung nicht zu geben. Während vorne besagter Musiklehrer Worship-Lieder Keyboard spielt und dazu singt, steht am Pult jemand, der mit geschlossenen Augen leidenschaftlich in ein Mikrofon schreit, verstehen kann man jedoch nichts. Erst nach einiger Zeit wird mir klar, dass es sich hier um ein Gebet handeln muss. Die Anwesenden begleiten dieses mit begeisterten „Amen!“- und „Halleluja“-Rufen, sprechen ebenfalls Dinge vor sich hin und einige laufen sogar auf und ab, wobei sie völlig versunken ununterbrochen in die Hände klatschen. Etwas befremdet sitzen wir auf unseren Plätzen, in der vorletzten Reihe, fühlen uns leicht unwohl und sehen dem Geschehen zu, während die Kirche sich nach und nach mit Menschen füllt. Der Gottesdienst besteht zum Großteil aus solch seltsamen mit Musik untermalten Gebeten, vor allem aber aus Liedern, die meist relativ kurz sind, dafür aber in Endlosschleife zehn Minuten lang wiederholt werden, während man beobachten kann, dass die Gemeindemitglieder nicht mehr ganz in dieser Welt zu sein scheinen. Beeindruckt bin ich jedoch davon, wie begeistert und wie gut hier gesungen wird. Ohne jegliche Noten singt man mehrstimmig, klatsche und tanzt dazu, was in Deutschland völlig undenkbar wäre. Auf ihren Plätzen sitzen bleiben können die wenigsten dabei. Die „Bibel-Lecture“ dauert etwa 45 Minuten, in denen ein Text Vers für Vers auseinandergenommen wird, die Anwesenden eifrig in ihren Bibeln blättern oder mitschreiben. Jeder, dem etwas dazu einfällt, steht auf um es der Gemeinde mitzuteilen. Natürlich werden wir Besucher anschließend auch noch persönlich begrüßt, dürfen nach vorne kommen und bekommen vom Pastor einen Segen auf Afrikaans zugesprochen, den wir daher leider nicht verstehen. Dass wir alle aus der Schweiz seien und im APC arbeiteten, weiß man bereits aus anonymer Quelle und erwähnt es also ganz nebenbei.
Nachdem der Gottesdienst nun schon zwei Stunden andauert geht man nun zur Predigt über, die wohl sehr emotional ist, denn der Pastor schreit beinahe eine Stunde lang in ein Mikrofon, wobei er auf und ab läuft. Verstehen kann man trotz der Dolmetscherin, die jedes Wort übersetzt, kaum etwas. Bis zu diesem Zeitpunk war alles, was hier vor sich ging zwar sehr befremdlich, jedoch nicht völlig unerwartet. Doch was nun folgt ist doch etwas beängstigend. Unter dem nun beinahe betörenden Gesang eines Anbetungsliedes kommen die Menschen einer nach dem Anderen nach vorne, vermutlich um einen Segen zu empfangen. Dazu strecken sie die Arme aus, worauf der Pastor ihnen eine Flüssigkeit -Öl, wie ich annehme- auf Kopf und Hände tropft, ihnen dann seine in Ekstase bebenden Hände auflegt und minutenlang Worte ruft, die ich nicht verstehe. Viele der so Gesalbten fangen an zu zittern, hyperventilieren, beginnen unverständliche Worte zu schreien und kippen ohnmächtig um. Damit scheint man gerechnet zu haben, denn immer steht schon jemand bereit, um betreffende Person aufzufangen und vorsichtig auf den Boden zu legen. Nachdem man diese dann mit Tüchern bedeckt hat geht man über zum Nächsten. Auch ältere Menschen, die kaum noch laufen können unterziehen sich diesem Ritual, haben jedoch teilweise Mühe, nachher wieder aufzustehen und benötigen die Hilfe einiger Frauen, die sie stützen. Bis letztendlich auch der Pastor selbst, sowie die Sängerinnen am Mikro und der Keyboard und Schlagzeugspieler an der Reihe gewesen sind, bin ich so benebelt von diesen Endlos-Gesängen, dass mir der Gedanke kommt, ich wäre bei diesem Ritual womöglich auch ohnmächtig geworden. Völlig erschöpft verlassen wir nach dreieinhalb Stunden die Kirche, nun um eine Erfahrung reicher.

Als sei das noch nicht genug gewesen, entschließe ich mich, am Nachmittag einen weiteren Gottesdienst zu besuchen. Der Gegensatz hätte jedoch größer nicht sein können. Es handelte sich um den der deutschen lutherischen Gemeinde von Tsumeb, der auf einer Farm etwas außerhalb im Freien stattfand. Plötzlich komme ich mir vor, als sei ich zu Hause in Deutschland. Hätte ich es nicht gewusst, wäre ich niemals auf die Idee gekommen, diese Menschen seien Namibier, die seit mehreren Generationen hier leben. Genauso gut hätte ich mich in einem niedersächsischen Dorf befinden können. Natürlich sitzt man hier ruhig auf seinem Stuhl, steht auf, wenn es erwartet werd und setzt sich dann wieder hin, liest etwas gelangweilt den Psalm im Wechsel mit dem Lektor. Etwas verwundert bin ich, dass die Gemeindelieder von den Wenigsten (wenn, dann natürlich einstimmig) mitgesungen werden, was in Kombination mit der wackeligen Gitarrenbegleitung etwas kläglich wirkt. Beinahe wage ich es nicht, selbst zu singen, obwohl ich ausnahmslos alle Lieder kenne, die der Pastor aus dem Niedersächsischen Gesangbuch ausgewählt hat. Ganz im Gegensatz zu der ekstatischen Stimmung am Vormittag herrscht hier eine sehr persönliche und gemütliche Atmosphäre. Man kennt sich gegenseitig und witzelt bei den Bekanntgaben selbstironisch über die Konfirmandengruppe, bestehend aus zwei Mitgliedern. Im Anschluss gibt es ein gemütliches Beisammensein bei Kaffee und Kuchen, wobei man sich über den neuesten Klatsch und Tratsch auf dem Laufenden hält, Kuchenrezepte austauscht und den Senioren-Spieleabend plant. Ich komme mir vor wie im falschen Film -ist das hier Namibia? Bis zu diesem Zeitpunkt habe ich in diesem Land noch keinen Kaffee getrunken, geschweige denn Kuchen gegessen. Nun sitze ich an auf einer hübschen Farm neben Bananenstauden an einem mit gebügelter Tischdecke und Deko-Objekten geschmückten Tisch und erzähle den deutschen Farmern, in einer Großfamilien-Atmosphäre von meiner Arbeit im APC.
Was soll ich von den Erlebnissen dieses Tages nur halten? Wie kann man an einem Tag so gegensätzliche Erfahrungen machen? Es gibt schon sehr seltsame Dinge...  Aber das gehört wohl dazu. Immerhin kann ich jetzt bestätigen, dass an dem Satz, Namibia sei ein Land voller Gegensätze, etwas Wahres dran ist.